Das Tagebuch
Verfasst: 07.02.2005, 23:45
*Da ich heute mal wieder eine längere Zugfahrt hatte ...*
Es war einmal in einem großen friedlichem Königreich da lebte der Sohn eines Kaufmanns. Die Familie war nicht übermäßig reich, doch immerhin besaß der Kaufmann in sowohl in der Stadt als auch in drei der umliegenden Dörfer gut gehende Geschäfte und hatte es doch zu einigem Wohlstand gebracht.
Er ließ seinen Sohn die besten Handelsakademie des Landes besuchen und es es wurde allgemein erwartet, dass er eines Tages des Geschäfte seines Vaters übernehmen werde. Doch schon jungen Jahren war sein Sohn der Ansicht, dass das Kaufmannsgewerbe nichts für ihn sei und er viel lieber Schriftsteller werden wolle, da er Geschichten liebte und eigentlich nie genug von fernen Ländern und Abenteuern hören konnte. Zunächst war der Kaufmann ziemlich wütend auf den Jüngling, doch dann entsann er sich, dass er als Junge ebenfalls einige verrückte Flausen im Kopf gehabt hatte. Und so erlaubte er seinem Sohn nach der Schule Unterricht bei einem bekannten, allerdings nicht sonderlich erfolgreichen Geschichtenerzähler zu nehmen.
Der arme Schriftsteller war nur zu gerne bereit - gegen entsprechende Bezahlung - einen Blick auf die Werke des Jungen zu werfen. Geduldig erläuterte er ihm, wie eine Geschichte seiner Ansicht nach aufgebaut sein müsse und welche erzählerischen Tricks er kannte; was allerdings nicht sonderlich viel war. Dennoch verbesserte sich der Schreibstil des Jungen bereits nach wenigen Wochen und der Geschichtenerzähler musste - doch etwas neidisch - eingestehen, dass er durchaus Talent besaß. Allerdings, so fügte er sogleich hinzu, mangele es ihm an realen Erfahrungen, um die Dinge richtig erzählen zu können. Daher ermunterte er den Jungen, zunächst einmal ein Tagebuch zu führen, um seine Fähigkeiten noch weiter zu verbessern.
Und so begann der Junge damit, fleißig Tag für Tag jeden Stinneseindruck, jede Begegnung und jede flüchtige in einem Tagebuch festzuhalten.
Mehrere Jahre vergingen. Schon bald war aus dem Tagebuch ein Werk aus zwei Bänden geworden. Offensichtlich war Schreiben nicht sein einziges Talent, denn er schaffte seinen Abschluss an der Handelsakademie mit Auszeichnung. Während der Feier anlässlich dieses Ereignisses verkündete sein Vater stolz, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, ihn in das Geschäft einzuführen. Der Junge wagte es nicht, seinem Vater vor allen geladenen Gästen zu widersprechen, doch er begann nun ernsthaft über sein zukünftiges Leben nachzudenken.
Später am Abend als er allein auf seinem Zimmer war, blätterte er durch sein altes Tagebuch und musste erschreckt feststellen, wie Ereignislos sein bisheriges Leben doch verlaufen war. Er erinnerte sich an die Worte des Geschichtenerzählers, den er nun schon seit langem nicht mehr aufgesucht hatte. Wie sollte er je über Drachen, Prinzessinnen und Ritter schreiben können, wenn er noch nicht einmal wusste wie ein Schwert aussah? - Man sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass das Königreich schon seit langem keinen Krieg erlebt hatte und sich die Constables der Stadtwache mit einfach Knüppel begnügten, um für Recht und Ordnung zu sorgen.
Der Jungen war bewusst, dass er die Erfahrungen, der der Geschichtenerzähler meinte, nur würde machen können, wenn er in die fernen Lande auszog und selbst ein Abenteuer erlebte. Ihm war aber auch wohl bewusst, dass er für eine solche Reise Geld benötigen würde und dass er von seinem Vater wohl kaum welches erhalten würde. Und so entschied er schweren Herzens, zunächst einmal auf das Angebot seines Vaters einzugehen und sich das notwendige Geld für die Reise zu verdienen.
So vergingen weitere Jahre. Der Junge arbeite sich schnell in die Geschäfte seines Vaters ein und fand sogar ein wenig gefallen daran. Aus dem Jungen wurde ein Mann und schließlich hatten sie genug Geld, um in einem weiteren Dorf sein Geschäft zu eröffnen. Der alte Kaufmann überließ diese Aufgabe ganz seinem Sohn, um ihn zu testen. Anfänglich kam es zu etlichen Schwierigkeiten, wie bei jeder Neueröffnung, doch der junge Kaufmann bewältigte sie souverän und schon bald war das neue Geschäft ein voller Erfolg und erwirtschaftete gute Gewinne.
Und so nahm der alte Kaufmann eines Tages seinen Sohn zur Seite und eröffnete ihm, dass er gedenke in Ruhestand zu gehen und von nun an ihn die gesamten Geschäfte führen zu lassen. Der junge Kaufmann fühlte sich geehrt, doch zugleich auch ein wenig um seinen Traum betrogen. Inzwischen hatte er genügend Geld beisammen, um für mindestens ein Jahr durch die Lange ziehen zu können. Doch ihm war auch das Alter seines Vaters bewusst und dass es dem alten Mann gewiss das Herz brechen würde, wenn er ihn jetzt so einfach im Stich ließe.
Also entschied der junge Kaufmann - dies war er nun fürwahr - die Geschäfte seines Vaters zumindest für einige Zeit zu übernehmen. Letztlich würde er die Reise immer noch unternehmen können und je mehr Geld er hatte, desto größer würde auch gewiss das Abenteuer werden. Derweil würde er sich auch weiterhin mit seinem Tagebuch begnügen, das er nun schon seit so vielen Jahren führte und das inzwischen schon fünf Bände umfasste.
Weitere Jahre vergingen. Mehrere junge - und teilweise auch recht ansehnliche - Damen machten dem jungen Kaufmann all zu deutliche Avancen, da er es durchaus zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hatte und - zumindest aus Sicht jener Damen - noch zu haben war. Doch der junge Kaufmann hing noch zu sehr an seinem Traum und war der Ansicht, dass er ohnehin schon zu sehr an sein Leben gebunden sei. So wies er die Avancen stets sehr höflich - immerhin handelte es sich meist um gut zahlende Kundinnen - aber auch sehr bestimmt zurück. Allerdings beschrieb er anschließend das Erlebte sehr ausführlich in seinem Tagebuch und widmete vielen der Damen meist mehrere Seiten.
Einige Jahre später verkündete der König des Landes, dass er gedenke, die Handelsgesetze des Landes gründlich zu überarbeiten. Die bedeutendsten Kaufleute des Landes, zu denen inzwischen auch der junge Kaufmann zählte, wurden in die Hauptstadt zitiert, um den König in einem Convent beratend zur Seite zu stehen. Natürlich dachte der junge Kaufmann nicht einmal im Traum daran, sich dem König zu widersetzen. Tatsächlich freute er sich sogar darauf, eine gute Entschuldigung zu haben, dem Alltag wenigstens für ein paar Wochen zu entfliehen. Wenngleich auch eine Reise zur Hauptstadt nicht unbedingt die Art von Abenteuer war, von der er geträumt hatte.
Auf der lange Reise hatte er ausreichend Gelegenheit nochmals in seinen alten Tagebüchern zu blättern. Doch die Lektüre deprimierte ihn zutiefst, da ihm einmal mehr bewusst wurde, wie hohl und leer sein gesamtes bisheriges Leben doch verlaufen war. Und so erreichte er die Hauptstadt in denkbar schlechter Stimmung, die er mit den anderen Kaufleuten des Convents teilte. Allerdings waren seine Kollegen weniger über ihr bisheriges Leben betrübt als vielmehr über die mögliche Änderung der bisherigen Gesetze und die Furcht in Zukunft weniger Gewinne erzielen zu können.
Der König des Landes war durchaus angesehen und galt gemeinhin als aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen, doch die Atmosphäre der offenen Feindseligkeit, die ihm in dem Convent der Kaufleute entgegen schlug, schien selbst ihn zu überfordern. Es wurde viel gebrüllt, lautstark argumentiert und einmal kam es sogar zu Handgreiflichkeiten, bei denen die Ordnungskräfte des Saales eingreifen musste. Der junge Kaufmann verhielt sich weitestgehend passiv und konnte sich nur über des kindische Betragen seiner Kollegen wundern. Doch gelang es ihm bei einigen Gesprächen in den Beratungspausen eine gemäßigte Fraktion zusammenzustellen unter deren Federführung zumindest einige Kompromisse ausgearbeitet werden konnten.
Nach wenigen Wochen endete der Konvent mit einigen eher oberflächlichen Vorschlägen für die Änderung des Handelsgesetzes, bei dem in erster Linie die Teile gestrichen wurden, die ohnehin keine Bedeutung mehr hatten. Doch es war ein guter Kompromiss, den sowohl der König, als auch die versammelten Kaufleute als Erfolg feiern konnten.
In seiner letzten Nacht in der Hauptstadt kehren die Gedankten des jungen Kaufmannes zu seinem Tagebuch zurück. Ihn plagte der Gedanke schon in kurzer Zeit wieder mit dem langweiligen und Ereignislosen Alltag des Geschäftes konfrontiert zu sein. So fast er kurzerhand den Entschluss irgend etwas zu unternehmen. Er packe seine Tagebücher in seinen Rucksack und verließ das Gasthaus in stockfinsterer Nacht.
Auf der Strasse zögerte er, denn im Grunde genommen hatte er nicht die geringste Ahnung, was er denn nun eigentlich unternehmen wollte. Da erinnerte er sich an die Erzählungen über den Zauberer des Königs. Wenn es jemanden gab, der ihm aus seinem langweiligen Leben befreien konnte, dann war er es. So machte sich der junge Kaufmann auf den Weg zu dem Abseits gelegenen Labor des berühmt-berüchtigten Zauberer.
Etwas mulmig war dem Kaufmann schon zumute als er an die verwitterte Tür des windschiefen Hauses klopfte. Der Zauber war nicht unbedingt beliebt, da es hieß er würde in erster Linie schwarze Magie praktizieren. Doch er war wohl weit und breit der Einzige, der noch dazu in der Lage war, höhere Magie zu wirken und so recht traute sich niemand, ihn so einfach aus der Stadt zu vertreiben und zum Feinde zu machen.
Ihm öffnete ein Männlein mit langem zerzaustem Bart, das so ganz und gar nicht wie ein mächtiger Zauberer aussah. Doch dem jungen Kaufmann war wohl bewusst, das der erste Anschein täuschen konnten. Er selbst hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, einen Kunden nie nach dessen Äußeren zu beurteilen, sondern erst abzuwarten bis dieser ihm einen Seitenblick auf den Geldbeutel gewährte.
"Was willst du!" krächzte das Männlein.
"Ich erbitte ihre Hilfe, großer Zauberer", sagte der Kaufmann höflich und - wie
er hoffte - ehrfurchtsvoll, obwohl es ihm doch schwer viel bei den Worten "großer Zauberer" nicht laut zu lachen, immerhin reicht ihm das Männlein nicht einmal bis zu Schulter.
"Zur Armenküche geht es die Straße runter dann nach rechts!"
"Ich benötige keine Almosen," erwiderte der Kaufmann mit fester Stimme und richtet dich etwas auf. "Mein Problem erfordert Magie."
Das Männlein musterte ihn von oben bis unten.
"Nein, so siehst du auch nicht aus. Ist schon eine Weile her seit das letzte Mal ein Narr mich um Hilfe ersucht hat. Könnte interessant werden." Das Männlein lächelte, bei diesem Anblick hätte der Kaufmann beinahe reißaus genommen.
"Nun, komm' herein denn und sei mein Gast."
Der junge Kaufmann zögerte ein wenig, dieser Aufforderung nachzukommen. Doch schließlich sagte er sich, dass er wohl niemals den Mut aufbringen würde, auf eine lange Reise zu gehen, wenn er schon Angst vor so einem kleinen Wicht hatte. Und so betrat der Kaufmann das Labor des Zauberers, dass so ganz und gar nicht seinen Vorstellung entspracht. Es wirkte eigentlich eher wie die Stube eines heruntergekommenen Bauernhofes, allerdings waren wie Tische und Schränke mit uralten Büchern und Schriften überhäuft.
"Nun denn, welches Problem erscheint dir so kompliziert, dass nur Magie es zu lösen vermag?" fragte der Zauberer nachdem er ihm einen klapperigen Stuhl angeboten hatte.
Also begann der Kaufmann von einem Traum zu erzählen und von seinem bisherigen Leben zu erzählen, wie sein Vater und die Umstände ihn jedes Mal in eine Richtung dirigiert hatten, die er eigentlich gar nicht hatte einschlagen wollen. Und er erklärte ihm, warum ihm kein Ausweg aus dieser Lage einfiele, da inzwischen so große Verantwortung auf seinen Schultern lastet. Er zeigte ihm sogar ein paar Teile aus seinem Tagebuch, obgleich es ihm mehr als peinlich war, einen wildfremden seine höchst privaten Aufzeichnungen lesen zu lassen.
"Soso ..." sagte der Zauberer schließlich nur. "Und was erwartest du nun von mir? Möchtest du, dass ich dir einen Gifttrank mische, mit dem du deinen Vater ins Jenseits schicken kannst? Dann wärst du frei und deine Flucht vor den Ordnungshütern dürfte genau die Art Abenteuer sein, die du suchst."
"Gottbewahre nein!!!" rief der Kaufmann.
"Natürlich gäbe des auch Mittel und Wege deinen Vater zu beseitigen, ohne dass auch nur der Hauch eines Verdachts auf dich fiele", fuhr der Zauberer mit leuchtenden Augen munter fort. Offenbar bereitete es ihm sichtlich vergnügen einen Mord zu planen.
"Ich möchte meinen Vater nicht umbringen!" rief der Kaufmann empört und konnte nur hoffen, dass es überzeugend genug klang.
Tatsächlich hatte er dergleichen nie auch nur ansatzweise im Sinn gehabt. Obgleich ... so beschämend es war, er musste sich selbst eingestehen, dass da durchaus eine kleine dunkle Seite in ihm war, die seinen Vater dafür hasste, ihn ihn dieses Leben gedrängt zu haben. Doch ein Mord, selbst ein perfekter Mord, stand außer Frage. Nie würde er zulassen, dass seinem Vater etwas zustieße oder - gottbewahre - er daran beteiligt war.
"Was dann also? Wie soll dir Magie weiterhelfen können?" fragte der Zauberer.
Tatsächlich wusste der Kaufmann keine Antwort darauf.
"Ich möchte doch nur Erfahrungen machen ... dass mein Leben interessanter wird."
Der Zauberer rieb sich den Bart und nickte schließlich.
"Zu einem Abenteuer vermag ich dir sicher nicht verhelfen, jedoch ein interessante Leben sollte durchaus möglich sein. Gibt mir dein Tagebuch.. - Keine Angst, du bekommst es wieder."
Nur sehr zögernd überreichte der Kaufmann dem Zauberer den letzten Band seines Tagebuchs. Der Zauber nahm es mit einer beinahe verächtlichen Geste und verschwand damit sogleich in seinem Hinterzimmer. Der Kaufmann hatte nicht einmal die Gelegenheit, irgendeine Frage zu stellen, und so wartete er ... mehrere Stunden. Aus dem Zimmer drangen mehrere sonderbare Geräusche und unter der Türritze waren gelegentlich einige Blitze zu erkennen.
Nachzusehen, was nun eigentlich darin vorging stand außer Frage.
Schließlich öffnete sich die Tür und der Zauberer kehrte zurück. Erneut war jenes unheimliche Grinsen zu sehen und auf den Armen trug er insgesamt sechs identisch aussehende Bände des Tagebuchs. Der Zauberer griff das oberste und reichte es dem Kaufmann zurück.
"Hier hast du dein Tagebuch zurück", sagte er und nickte dann auf die restlichen fünf Bände. "Dies hier sind deine Tagebücher, die noch geschrieben werden."
Der Kaufmann war so überrascht, dass er die Bücher ohne nachzudenken entgegen nahm. Ihm fiel auf, dass die zusätzlichen Bände doch etwas sonderbar aussehen, es schien so als würden sie das Licht nicht richtig einzufangen und als er sie auf dem Tisch ablegte stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass sie keinen Schatten warfen, so als wären sie eigentlich gar nicht vorhanden.
"Ich verstehe nicht...", sagte er schließlich, was vollkommen der Wahrheit entsprach.
"Ich gestatte dir einen Blick auf deine zukünftigen Tagebücher. Du könntest wenigstens etwas dankbar sein", erklärte der Zauberer verärgert.
"Aber was hat das mit meinem Wunsch zu tun?"
Daraufhin grinste der Zauberer nur.
"Keine Sorge, dein Leben wird von nun an viel interessanter werden. - Und jetzt geh!"
Der Zauberer machte einige sonderbare Handbewegungen, der Raum verdunkelte sich und der Kaufmann spürte, wie etwas an seinen Kleidern zog. Beim nächsten Augenzwinkern befand er sich plötzlich wieder in seinem Zimmer im Gasthof. Die fünf sonderbaren Bände seines Tagebuchs lagen vor ihm auf dem Boden. Der junge Kaufmann machte schnell einige Schritte rückwärts, um möglichst viel Abstand zu jenen unheimlichen magischen Objekten zu gewinnen.
Auch mehrere Stunden später traute er sich nicht, jene Bücher zu berühren oder gar einen Blick hinein zu riskieren. Am nächsten Morgen war er beinahe versucht, die Bücher einfach auf dem Boden liegen zu lassen und zu vergessen, dass er den Zauberer je aufgesucht hatte. Aber das war natürlich nicht möglich. Was - so fragte er sich - wenn der Hausmagd des Gasthofs die Bücher fand und einen Blick hinein warf? Und so warf er seinen Mantel über jene Bände und wickelte sie fest darin ein.
Auf dem Rückweg dachte er nochmal gründlich über das Geschehen nach. Mehrmals warf er einen Blick auf den zusammengerollten Mantel neben ihm, er war hin und her gerissen zwischen Furcht und Neugier. Letztlich obsiegte die Neugier und er öffnete das Bündel vorsichtig. Im Schatten sahen die Bände eigentlich ganz normal aus und sie fühlten sich auch ganz normal an, wie er kurz darauf feststellen musste.
Ohne lange darüber nachzudenken, nahm er einen der Bände zur Hand und blätterte darin. Sämtliche Seiten waren eng beschrieben und der Kaufmann erkannte auf den ersten Blick, dass es sich um seine Handschrift handelte. Er schaute genauer hin und sah einen Eintrag der einige Jahre in der Zukunft lag. Das war schon erschreckend genug und den Kaufmann hätte beinahe der Mut verlassen. Doch er fasste sich ein Herz und begann zu lesen.
Wirklich schlau wurde er aus dem geschriebenen allerdings nicht. Eines war jedoch gewiß, es handelte sich in der Tat um seine Handschrift und seinen Schreibstil, niemand anders als er selbst hätte dies schreiben können. Doch in dem Eintrag war von Personen und Ereignissen die Rede, die er weder kannte noch je erlebt hatte. Konnte es wirklich möglich sein, dass der Zauberer ihm einen Blick in die Zukunft gewährt hatte?
Jetzt wo er einigermaßen sicher war, dass ihn die Bücher weder beissen noch in ihm im Gesicht explodieren würden, konnte er sich kaum noch zurückhalten. Er nahm den Band der offensichtlich chronologisch am nächsten war und begann in den ersten Einträgen zu lesen. Die ersten Seiten scheinen eine exakte Kopie seines aktuellen Bandes zu sein und er dachte schon er habe in der Hektik einen Fehler gemacht. Doch dann entdeckte er, dass die letzten Seiten dieses Exemplars befüllt waren. Schnell fand er das aktuelle Datum und laß fasziniert den Eintrag, den er erst Morgen machen würde – sofern der Zauberer keinen üblen Streich mit ihm spielte.
Er beschriebt darin, wie er nach Hause zurückkehrte und mit welchen Worten ihn sein Vater begrüssen würde. Nichts, wirklich außergewöhnliches, aber es klang alles sehr glaubwürdig und spätestens morgen würde er wissen, ob ihn sein Vater tatsächlich mit diesen Worten begrüssen würde oder ob dies alles lediglich ein Schwindel war.
Irgendwann nach der dritten Seite wurde ihm mit einem Mal bewußt wie wenig Bände ihm der Zauberer überlassen hatte. Gerade einmal fünf! Und die Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass er – selbst bei kleiner regelmässiger Schrift – spätestens nach zwei Jahren einen neuen Band anfing. Bedeutet das etwa ... weniger als 10 Jahre von jetzt an?! Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken runter.
Er griff nach dem letzten Band in der Sammlung, die ihm der Zauberer gegeben hatte. Doch er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, ihn aufzuschlagen und nachzusehen, welches Schicksal ihn erwartet. Vielleicht – so hoffte er – würde er in 10 Jahren sich lediglich dazu entschließen, sein Tagebuch nicht weiter fortzuführen. Oder aber, der Zauberer war der Ansicht gewesen, dass fünf Bände mehr als genug für jemanden wie ihn waren. Tief in seinem Innern wußte er jedoch, dass dies nur Fadenscheinige Hoffnungen waren. Im Grunde wollte er überhaupt nicht wissen, was in diesem Band stand Schnell wickelte er die Bücher wieder in seinen Mantel und versuchte dieses Teufelswerk für den Rest der Reise zu vergessen.
Natürlich war das so gut wie unmöglich. Als er schließlich zu Hause ankam begrüßte ihn sein Vater mit genau den Worten, die er in dem Tagebuch gelesen hatte. Schlimmer noch, als er später auf seinen Gemächern wie gewöhnlich in seinem Tagebuch schrieb, wurde ihm plötzlich bewußt, dass er wie selbstverständlich den Eintrag aus dem Buch des Zauberers reproduziert hatte, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Und jedes einzelne Wort entsprach der Wahrheit.
Einige Tage lang versuchte er vergeblich, nicht weiter darüber nachzudenken, doch schließlich konnte er nicht anders. Er mußte einfach weiter in den Büchern lesen und sein Schicksal ergründen. Doch irgendwie widerstand er der Versuchung, gleich mit der letzten Seite des letzten Bandes zu beginnen. Was auch immer in diesen Bänden stand, er war fest entschlossen, es in der Richten Reihenfolge zu lesen.
Und so überließ er für einige Tage die Geschäfte seinen Gehilfen und verkroch sich in seinem Zimmer, um die fünf Tagebücher von Anfang bis Ende zu lesen. Bisher hatte er nie sonderlich viel in seinen Tagebüchern gelesen, sondern sich hauptsächlich mit schreiben beschäftigt. Bereits nach einigen Duzend Seiten wurde ihm bewußt, was für ein langatmiger Schreiber er im Grunde doch war und dass das Lesen dieser fünf Bände einer Tortur gleichkommen würde. Doch er zwang sich zum Weiterlesen.
Mit jeder Seite wurde seine Erzählweise komplexer. Er lass seine eigene Beschreibung über Dinge, die er seinem Tagebuch gelesen hatte, die er versucht hatte, zu ändern, nur um sie dann genau mit den gelesenen Worten niederzuschreiben. Wirklich kompliziert wurde es, als er die Beschreibung über den heutigen Tag lass, wie er in einigen Wochen an seine jetzige Erfahrung zurückdenken würde und wie er dabei empfunden hatte, als er just diesen Abschnitt gelesen hatte. Dem Kaufmann wurde beinahe schwindelig dabei.
Aber schließlich wurde der Stil wieder ein wenig sachlicher und war nicht mehr all zu sehr auf das Tagebuch selbst fixiert. Er lass über neue Begegnungen und über Geschäfte die er tätigen würde. Der Kaufmann in ihm jubilierte bei diesen Beschreibungen, denn ganz offensichtlich würden all seine Unternehmungen von aussergewöhnlich gutem Erfolg gekrönt sein.
In dem vierten Band schließlich lass über den Tot seines Vaters und der Kaufmann war für einige Stunden dermassen schockiert, dass er unmöglich weiterlesen konnte. Sicher, er hatte immer gewußt, dass sein Vater eines Tages nicht mehr sein würde und er war ja auch nicht mehr der Allerjüngste. Doch das genaue Datum zu kennen ... und schon in so wenigen Jahren. Dies war weit entsetzlicher, als er es sich jemals hätte träumen lassen.
Schließlich konnte er sich dazu durchringen, die auch noch die verbleibenden Seiten zu lesen. Offenbar begann er nach dem Tod seines Vaters endlich mit der Reise, von der er nun schon lange träumte. Tatsächlich schrieb er – beziehungsweise würde noch schreiben – dass er nur aus dem Grunde so lange damit gewartet hatte, weil ihm das Tagebuch ihm von diesem Tag berichtet hatte und er seinen Vater auf seine letzten Tage nicht hatte in Gram verfallen lassen wollen.
Fasziniert lass der Kaufmann über die Länder, die er noch besuchen würde, und über die Menschen, denen er noch begegnen würde. Es klang nach genau der Art von Abenteuer, nach der er sich nun schon so lange sehnte. Und wenn das Tagebuch recht behielt, so wie es die wenigen Wochen bis jetzt recht behalten hatte, so würde er all dies tatsächlich schon in ein paar Jahren erleben.
Doch würde er jemals die Gelegenheit haben, all diese Erfahrungen zu einer Geschichte zusammenzufassen? Er war schon in der Mitte des fünften Bandes angelangt und auch der Kaufmann in dem Buch – seinem zukünftigen Selbst – schien ebenfalls diese Sorge zu plagen. Die Einträge wurden immer deprimierter, da das Ende nahe zu sein schein.
Und dann plötzlich, etwa nach zwei Dritteln des Bandes endetet das Tagebuch gänzlich unvermittelt. Der Kaufmann war perplex. Keine Erklärung, was mit ihm wohl geschehen würde. Keine siechende Krankheit oder sonstiges nahendes Übel hatten sich auf den vorherigen Seiten abgezeichnet. Der Kaufmann blätterte zurück, um noch einmal den letzten Satz zu lesen.
"Ich habe alles versucht. Was auch immer geschehen mag, wird geschehen und es gibt nichts was ich daran zu ändern vermag", stand da geschrieben.
Der Kaufmann blätterte noch ein wenig weiter zurück, um sich Klarheit zu verschaffen. Ganz offensichtlich wußte sein zukünftiges ich genausowenig von dem bevorstehenden Unheil wie er selbst in diesem Augenblick. Er kannte nur das Datum und das es danach ganz augenscheinlich nicht mehr weiterging. Vermutlich war sein Schicksal etwas gänzlich unvorhersehbares Plötzliches, entschied der Kaufmann schließlich und wußte nicht so recht was er davon halten sollte. Einerseits war es vielleicht ein Segen, dass er nicht an irgendeiner schlimmen Krankheit sterben würde, wie er zu Anfang noch befürchtet hatte. Aber andererseits ... so wenige Jahre und dann letztlich doch die bleibende Ungewissheit. Der Zauberer hatte ihm wahrlich ein grausames Geschenk gemacht.
*Bis hier hin bin ich gekommen ... hatte ja noch einiges anderes zu erledigen*
Es war einmal in einem großen friedlichem Königreich da lebte der Sohn eines Kaufmanns. Die Familie war nicht übermäßig reich, doch immerhin besaß der Kaufmann in sowohl in der Stadt als auch in drei der umliegenden Dörfer gut gehende Geschäfte und hatte es doch zu einigem Wohlstand gebracht.
Er ließ seinen Sohn die besten Handelsakademie des Landes besuchen und es es wurde allgemein erwartet, dass er eines Tages des Geschäfte seines Vaters übernehmen werde. Doch schon jungen Jahren war sein Sohn der Ansicht, dass das Kaufmannsgewerbe nichts für ihn sei und er viel lieber Schriftsteller werden wolle, da er Geschichten liebte und eigentlich nie genug von fernen Ländern und Abenteuern hören konnte. Zunächst war der Kaufmann ziemlich wütend auf den Jüngling, doch dann entsann er sich, dass er als Junge ebenfalls einige verrückte Flausen im Kopf gehabt hatte. Und so erlaubte er seinem Sohn nach der Schule Unterricht bei einem bekannten, allerdings nicht sonderlich erfolgreichen Geschichtenerzähler zu nehmen.
Der arme Schriftsteller war nur zu gerne bereit - gegen entsprechende Bezahlung - einen Blick auf die Werke des Jungen zu werfen. Geduldig erläuterte er ihm, wie eine Geschichte seiner Ansicht nach aufgebaut sein müsse und welche erzählerischen Tricks er kannte; was allerdings nicht sonderlich viel war. Dennoch verbesserte sich der Schreibstil des Jungen bereits nach wenigen Wochen und der Geschichtenerzähler musste - doch etwas neidisch - eingestehen, dass er durchaus Talent besaß. Allerdings, so fügte er sogleich hinzu, mangele es ihm an realen Erfahrungen, um die Dinge richtig erzählen zu können. Daher ermunterte er den Jungen, zunächst einmal ein Tagebuch zu führen, um seine Fähigkeiten noch weiter zu verbessern.
Und so begann der Junge damit, fleißig Tag für Tag jeden Stinneseindruck, jede Begegnung und jede flüchtige in einem Tagebuch festzuhalten.
Mehrere Jahre vergingen. Schon bald war aus dem Tagebuch ein Werk aus zwei Bänden geworden. Offensichtlich war Schreiben nicht sein einziges Talent, denn er schaffte seinen Abschluss an der Handelsakademie mit Auszeichnung. Während der Feier anlässlich dieses Ereignisses verkündete sein Vater stolz, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, ihn in das Geschäft einzuführen. Der Junge wagte es nicht, seinem Vater vor allen geladenen Gästen zu widersprechen, doch er begann nun ernsthaft über sein zukünftiges Leben nachzudenken.
Später am Abend als er allein auf seinem Zimmer war, blätterte er durch sein altes Tagebuch und musste erschreckt feststellen, wie Ereignislos sein bisheriges Leben doch verlaufen war. Er erinnerte sich an die Worte des Geschichtenerzählers, den er nun schon seit langem nicht mehr aufgesucht hatte. Wie sollte er je über Drachen, Prinzessinnen und Ritter schreiben können, wenn er noch nicht einmal wusste wie ein Schwert aussah? - Man sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass das Königreich schon seit langem keinen Krieg erlebt hatte und sich die Constables der Stadtwache mit einfach Knüppel begnügten, um für Recht und Ordnung zu sorgen.
Der Jungen war bewusst, dass er die Erfahrungen, der der Geschichtenerzähler meinte, nur würde machen können, wenn er in die fernen Lande auszog und selbst ein Abenteuer erlebte. Ihm war aber auch wohl bewusst, dass er für eine solche Reise Geld benötigen würde und dass er von seinem Vater wohl kaum welches erhalten würde. Und so entschied er schweren Herzens, zunächst einmal auf das Angebot seines Vaters einzugehen und sich das notwendige Geld für die Reise zu verdienen.
So vergingen weitere Jahre. Der Junge arbeite sich schnell in die Geschäfte seines Vaters ein und fand sogar ein wenig gefallen daran. Aus dem Jungen wurde ein Mann und schließlich hatten sie genug Geld, um in einem weiteren Dorf sein Geschäft zu eröffnen. Der alte Kaufmann überließ diese Aufgabe ganz seinem Sohn, um ihn zu testen. Anfänglich kam es zu etlichen Schwierigkeiten, wie bei jeder Neueröffnung, doch der junge Kaufmann bewältigte sie souverän und schon bald war das neue Geschäft ein voller Erfolg und erwirtschaftete gute Gewinne.
Und so nahm der alte Kaufmann eines Tages seinen Sohn zur Seite und eröffnete ihm, dass er gedenke in Ruhestand zu gehen und von nun an ihn die gesamten Geschäfte führen zu lassen. Der junge Kaufmann fühlte sich geehrt, doch zugleich auch ein wenig um seinen Traum betrogen. Inzwischen hatte er genügend Geld beisammen, um für mindestens ein Jahr durch die Lange ziehen zu können. Doch ihm war auch das Alter seines Vaters bewusst und dass es dem alten Mann gewiss das Herz brechen würde, wenn er ihn jetzt so einfach im Stich ließe.
Also entschied der junge Kaufmann - dies war er nun fürwahr - die Geschäfte seines Vaters zumindest für einige Zeit zu übernehmen. Letztlich würde er die Reise immer noch unternehmen können und je mehr Geld er hatte, desto größer würde auch gewiss das Abenteuer werden. Derweil würde er sich auch weiterhin mit seinem Tagebuch begnügen, das er nun schon seit so vielen Jahren führte und das inzwischen schon fünf Bände umfasste.
Weitere Jahre vergingen. Mehrere junge - und teilweise auch recht ansehnliche - Damen machten dem jungen Kaufmann all zu deutliche Avancen, da er es durchaus zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hatte und - zumindest aus Sicht jener Damen - noch zu haben war. Doch der junge Kaufmann hing noch zu sehr an seinem Traum und war der Ansicht, dass er ohnehin schon zu sehr an sein Leben gebunden sei. So wies er die Avancen stets sehr höflich - immerhin handelte es sich meist um gut zahlende Kundinnen - aber auch sehr bestimmt zurück. Allerdings beschrieb er anschließend das Erlebte sehr ausführlich in seinem Tagebuch und widmete vielen der Damen meist mehrere Seiten.
Einige Jahre später verkündete der König des Landes, dass er gedenke, die Handelsgesetze des Landes gründlich zu überarbeiten. Die bedeutendsten Kaufleute des Landes, zu denen inzwischen auch der junge Kaufmann zählte, wurden in die Hauptstadt zitiert, um den König in einem Convent beratend zur Seite zu stehen. Natürlich dachte der junge Kaufmann nicht einmal im Traum daran, sich dem König zu widersetzen. Tatsächlich freute er sich sogar darauf, eine gute Entschuldigung zu haben, dem Alltag wenigstens für ein paar Wochen zu entfliehen. Wenngleich auch eine Reise zur Hauptstadt nicht unbedingt die Art von Abenteuer war, von der er geträumt hatte.
Auf der lange Reise hatte er ausreichend Gelegenheit nochmals in seinen alten Tagebüchern zu blättern. Doch die Lektüre deprimierte ihn zutiefst, da ihm einmal mehr bewusst wurde, wie hohl und leer sein gesamtes bisheriges Leben doch verlaufen war. Und so erreichte er die Hauptstadt in denkbar schlechter Stimmung, die er mit den anderen Kaufleuten des Convents teilte. Allerdings waren seine Kollegen weniger über ihr bisheriges Leben betrübt als vielmehr über die mögliche Änderung der bisherigen Gesetze und die Furcht in Zukunft weniger Gewinne erzielen zu können.
Der König des Landes war durchaus angesehen und galt gemeinhin als aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen, doch die Atmosphäre der offenen Feindseligkeit, die ihm in dem Convent der Kaufleute entgegen schlug, schien selbst ihn zu überfordern. Es wurde viel gebrüllt, lautstark argumentiert und einmal kam es sogar zu Handgreiflichkeiten, bei denen die Ordnungskräfte des Saales eingreifen musste. Der junge Kaufmann verhielt sich weitestgehend passiv und konnte sich nur über des kindische Betragen seiner Kollegen wundern. Doch gelang es ihm bei einigen Gesprächen in den Beratungspausen eine gemäßigte Fraktion zusammenzustellen unter deren Federführung zumindest einige Kompromisse ausgearbeitet werden konnten.
Nach wenigen Wochen endete der Konvent mit einigen eher oberflächlichen Vorschlägen für die Änderung des Handelsgesetzes, bei dem in erster Linie die Teile gestrichen wurden, die ohnehin keine Bedeutung mehr hatten. Doch es war ein guter Kompromiss, den sowohl der König, als auch die versammelten Kaufleute als Erfolg feiern konnten.
In seiner letzten Nacht in der Hauptstadt kehren die Gedankten des jungen Kaufmannes zu seinem Tagebuch zurück. Ihn plagte der Gedanke schon in kurzer Zeit wieder mit dem langweiligen und Ereignislosen Alltag des Geschäftes konfrontiert zu sein. So fast er kurzerhand den Entschluss irgend etwas zu unternehmen. Er packe seine Tagebücher in seinen Rucksack und verließ das Gasthaus in stockfinsterer Nacht.
Auf der Strasse zögerte er, denn im Grunde genommen hatte er nicht die geringste Ahnung, was er denn nun eigentlich unternehmen wollte. Da erinnerte er sich an die Erzählungen über den Zauberer des Königs. Wenn es jemanden gab, der ihm aus seinem langweiligen Leben befreien konnte, dann war er es. So machte sich der junge Kaufmann auf den Weg zu dem Abseits gelegenen Labor des berühmt-berüchtigten Zauberer.
Etwas mulmig war dem Kaufmann schon zumute als er an die verwitterte Tür des windschiefen Hauses klopfte. Der Zauber war nicht unbedingt beliebt, da es hieß er würde in erster Linie schwarze Magie praktizieren. Doch er war wohl weit und breit der Einzige, der noch dazu in der Lage war, höhere Magie zu wirken und so recht traute sich niemand, ihn so einfach aus der Stadt zu vertreiben und zum Feinde zu machen.
Ihm öffnete ein Männlein mit langem zerzaustem Bart, das so ganz und gar nicht wie ein mächtiger Zauberer aussah. Doch dem jungen Kaufmann war wohl bewusst, das der erste Anschein täuschen konnten. Er selbst hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, einen Kunden nie nach dessen Äußeren zu beurteilen, sondern erst abzuwarten bis dieser ihm einen Seitenblick auf den Geldbeutel gewährte.
"Was willst du!" krächzte das Männlein.
"Ich erbitte ihre Hilfe, großer Zauberer", sagte der Kaufmann höflich und - wie
er hoffte - ehrfurchtsvoll, obwohl es ihm doch schwer viel bei den Worten "großer Zauberer" nicht laut zu lachen, immerhin reicht ihm das Männlein nicht einmal bis zu Schulter.
"Zur Armenküche geht es die Straße runter dann nach rechts!"
"Ich benötige keine Almosen," erwiderte der Kaufmann mit fester Stimme und richtet dich etwas auf. "Mein Problem erfordert Magie."
Das Männlein musterte ihn von oben bis unten.
"Nein, so siehst du auch nicht aus. Ist schon eine Weile her seit das letzte Mal ein Narr mich um Hilfe ersucht hat. Könnte interessant werden." Das Männlein lächelte, bei diesem Anblick hätte der Kaufmann beinahe reißaus genommen.
"Nun, komm' herein denn und sei mein Gast."
Der junge Kaufmann zögerte ein wenig, dieser Aufforderung nachzukommen. Doch schließlich sagte er sich, dass er wohl niemals den Mut aufbringen würde, auf eine lange Reise zu gehen, wenn er schon Angst vor so einem kleinen Wicht hatte. Und so betrat der Kaufmann das Labor des Zauberers, dass so ganz und gar nicht seinen Vorstellung entspracht. Es wirkte eigentlich eher wie die Stube eines heruntergekommenen Bauernhofes, allerdings waren wie Tische und Schränke mit uralten Büchern und Schriften überhäuft.
"Nun denn, welches Problem erscheint dir so kompliziert, dass nur Magie es zu lösen vermag?" fragte der Zauberer nachdem er ihm einen klapperigen Stuhl angeboten hatte.
Also begann der Kaufmann von einem Traum zu erzählen und von seinem bisherigen Leben zu erzählen, wie sein Vater und die Umstände ihn jedes Mal in eine Richtung dirigiert hatten, die er eigentlich gar nicht hatte einschlagen wollen. Und er erklärte ihm, warum ihm kein Ausweg aus dieser Lage einfiele, da inzwischen so große Verantwortung auf seinen Schultern lastet. Er zeigte ihm sogar ein paar Teile aus seinem Tagebuch, obgleich es ihm mehr als peinlich war, einen wildfremden seine höchst privaten Aufzeichnungen lesen zu lassen.
"Soso ..." sagte der Zauberer schließlich nur. "Und was erwartest du nun von mir? Möchtest du, dass ich dir einen Gifttrank mische, mit dem du deinen Vater ins Jenseits schicken kannst? Dann wärst du frei und deine Flucht vor den Ordnungshütern dürfte genau die Art Abenteuer sein, die du suchst."
"Gottbewahre nein!!!" rief der Kaufmann.
"Natürlich gäbe des auch Mittel und Wege deinen Vater zu beseitigen, ohne dass auch nur der Hauch eines Verdachts auf dich fiele", fuhr der Zauberer mit leuchtenden Augen munter fort. Offenbar bereitete es ihm sichtlich vergnügen einen Mord zu planen.
"Ich möchte meinen Vater nicht umbringen!" rief der Kaufmann empört und konnte nur hoffen, dass es überzeugend genug klang.
Tatsächlich hatte er dergleichen nie auch nur ansatzweise im Sinn gehabt. Obgleich ... so beschämend es war, er musste sich selbst eingestehen, dass da durchaus eine kleine dunkle Seite in ihm war, die seinen Vater dafür hasste, ihn ihn dieses Leben gedrängt zu haben. Doch ein Mord, selbst ein perfekter Mord, stand außer Frage. Nie würde er zulassen, dass seinem Vater etwas zustieße oder - gottbewahre - er daran beteiligt war.
"Was dann also? Wie soll dir Magie weiterhelfen können?" fragte der Zauberer.
Tatsächlich wusste der Kaufmann keine Antwort darauf.
"Ich möchte doch nur Erfahrungen machen ... dass mein Leben interessanter wird."
Der Zauberer rieb sich den Bart und nickte schließlich.
"Zu einem Abenteuer vermag ich dir sicher nicht verhelfen, jedoch ein interessante Leben sollte durchaus möglich sein. Gibt mir dein Tagebuch.. - Keine Angst, du bekommst es wieder."
Nur sehr zögernd überreichte der Kaufmann dem Zauberer den letzten Band seines Tagebuchs. Der Zauber nahm es mit einer beinahe verächtlichen Geste und verschwand damit sogleich in seinem Hinterzimmer. Der Kaufmann hatte nicht einmal die Gelegenheit, irgendeine Frage zu stellen, und so wartete er ... mehrere Stunden. Aus dem Zimmer drangen mehrere sonderbare Geräusche und unter der Türritze waren gelegentlich einige Blitze zu erkennen.
Nachzusehen, was nun eigentlich darin vorging stand außer Frage.
Schließlich öffnete sich die Tür und der Zauberer kehrte zurück. Erneut war jenes unheimliche Grinsen zu sehen und auf den Armen trug er insgesamt sechs identisch aussehende Bände des Tagebuchs. Der Zauberer griff das oberste und reichte es dem Kaufmann zurück.
"Hier hast du dein Tagebuch zurück", sagte er und nickte dann auf die restlichen fünf Bände. "Dies hier sind deine Tagebücher, die noch geschrieben werden."
Der Kaufmann war so überrascht, dass er die Bücher ohne nachzudenken entgegen nahm. Ihm fiel auf, dass die zusätzlichen Bände doch etwas sonderbar aussehen, es schien so als würden sie das Licht nicht richtig einzufangen und als er sie auf dem Tisch ablegte stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass sie keinen Schatten warfen, so als wären sie eigentlich gar nicht vorhanden.
"Ich verstehe nicht...", sagte er schließlich, was vollkommen der Wahrheit entsprach.
"Ich gestatte dir einen Blick auf deine zukünftigen Tagebücher. Du könntest wenigstens etwas dankbar sein", erklärte der Zauberer verärgert.
"Aber was hat das mit meinem Wunsch zu tun?"
Daraufhin grinste der Zauberer nur.
"Keine Sorge, dein Leben wird von nun an viel interessanter werden. - Und jetzt geh!"
Der Zauberer machte einige sonderbare Handbewegungen, der Raum verdunkelte sich und der Kaufmann spürte, wie etwas an seinen Kleidern zog. Beim nächsten Augenzwinkern befand er sich plötzlich wieder in seinem Zimmer im Gasthof. Die fünf sonderbaren Bände seines Tagebuchs lagen vor ihm auf dem Boden. Der junge Kaufmann machte schnell einige Schritte rückwärts, um möglichst viel Abstand zu jenen unheimlichen magischen Objekten zu gewinnen.
Auch mehrere Stunden später traute er sich nicht, jene Bücher zu berühren oder gar einen Blick hinein zu riskieren. Am nächsten Morgen war er beinahe versucht, die Bücher einfach auf dem Boden liegen zu lassen und zu vergessen, dass er den Zauberer je aufgesucht hatte. Aber das war natürlich nicht möglich. Was - so fragte er sich - wenn der Hausmagd des Gasthofs die Bücher fand und einen Blick hinein warf? Und so warf er seinen Mantel über jene Bände und wickelte sie fest darin ein.
Auf dem Rückweg dachte er nochmal gründlich über das Geschehen nach. Mehrmals warf er einen Blick auf den zusammengerollten Mantel neben ihm, er war hin und her gerissen zwischen Furcht und Neugier. Letztlich obsiegte die Neugier und er öffnete das Bündel vorsichtig. Im Schatten sahen die Bände eigentlich ganz normal aus und sie fühlten sich auch ganz normal an, wie er kurz darauf feststellen musste.
Ohne lange darüber nachzudenken, nahm er einen der Bände zur Hand und blätterte darin. Sämtliche Seiten waren eng beschrieben und der Kaufmann erkannte auf den ersten Blick, dass es sich um seine Handschrift handelte. Er schaute genauer hin und sah einen Eintrag der einige Jahre in der Zukunft lag. Das war schon erschreckend genug und den Kaufmann hätte beinahe der Mut verlassen. Doch er fasste sich ein Herz und begann zu lesen.
Wirklich schlau wurde er aus dem geschriebenen allerdings nicht. Eines war jedoch gewiß, es handelte sich in der Tat um seine Handschrift und seinen Schreibstil, niemand anders als er selbst hätte dies schreiben können. Doch in dem Eintrag war von Personen und Ereignissen die Rede, die er weder kannte noch je erlebt hatte. Konnte es wirklich möglich sein, dass der Zauberer ihm einen Blick in die Zukunft gewährt hatte?
Jetzt wo er einigermaßen sicher war, dass ihn die Bücher weder beissen noch in ihm im Gesicht explodieren würden, konnte er sich kaum noch zurückhalten. Er nahm den Band der offensichtlich chronologisch am nächsten war und begann in den ersten Einträgen zu lesen. Die ersten Seiten scheinen eine exakte Kopie seines aktuellen Bandes zu sein und er dachte schon er habe in der Hektik einen Fehler gemacht. Doch dann entdeckte er, dass die letzten Seiten dieses Exemplars befüllt waren. Schnell fand er das aktuelle Datum und laß fasziniert den Eintrag, den er erst Morgen machen würde – sofern der Zauberer keinen üblen Streich mit ihm spielte.
Er beschriebt darin, wie er nach Hause zurückkehrte und mit welchen Worten ihn sein Vater begrüssen würde. Nichts, wirklich außergewöhnliches, aber es klang alles sehr glaubwürdig und spätestens morgen würde er wissen, ob ihn sein Vater tatsächlich mit diesen Worten begrüssen würde oder ob dies alles lediglich ein Schwindel war.
Irgendwann nach der dritten Seite wurde ihm mit einem Mal bewußt wie wenig Bände ihm der Zauberer überlassen hatte. Gerade einmal fünf! Und die Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass er – selbst bei kleiner regelmässiger Schrift – spätestens nach zwei Jahren einen neuen Band anfing. Bedeutet das etwa ... weniger als 10 Jahre von jetzt an?! Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken runter.
Er griff nach dem letzten Band in der Sammlung, die ihm der Zauberer gegeben hatte. Doch er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, ihn aufzuschlagen und nachzusehen, welches Schicksal ihn erwartet. Vielleicht – so hoffte er – würde er in 10 Jahren sich lediglich dazu entschließen, sein Tagebuch nicht weiter fortzuführen. Oder aber, der Zauberer war der Ansicht gewesen, dass fünf Bände mehr als genug für jemanden wie ihn waren. Tief in seinem Innern wußte er jedoch, dass dies nur Fadenscheinige Hoffnungen waren. Im Grunde wollte er überhaupt nicht wissen, was in diesem Band stand Schnell wickelte er die Bücher wieder in seinen Mantel und versuchte dieses Teufelswerk für den Rest der Reise zu vergessen.
Natürlich war das so gut wie unmöglich. Als er schließlich zu Hause ankam begrüßte ihn sein Vater mit genau den Worten, die er in dem Tagebuch gelesen hatte. Schlimmer noch, als er später auf seinen Gemächern wie gewöhnlich in seinem Tagebuch schrieb, wurde ihm plötzlich bewußt, dass er wie selbstverständlich den Eintrag aus dem Buch des Zauberers reproduziert hatte, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Und jedes einzelne Wort entsprach der Wahrheit.
Einige Tage lang versuchte er vergeblich, nicht weiter darüber nachzudenken, doch schließlich konnte er nicht anders. Er mußte einfach weiter in den Büchern lesen und sein Schicksal ergründen. Doch irgendwie widerstand er der Versuchung, gleich mit der letzten Seite des letzten Bandes zu beginnen. Was auch immer in diesen Bänden stand, er war fest entschlossen, es in der Richten Reihenfolge zu lesen.
Und so überließ er für einige Tage die Geschäfte seinen Gehilfen und verkroch sich in seinem Zimmer, um die fünf Tagebücher von Anfang bis Ende zu lesen. Bisher hatte er nie sonderlich viel in seinen Tagebüchern gelesen, sondern sich hauptsächlich mit schreiben beschäftigt. Bereits nach einigen Duzend Seiten wurde ihm bewußt, was für ein langatmiger Schreiber er im Grunde doch war und dass das Lesen dieser fünf Bände einer Tortur gleichkommen würde. Doch er zwang sich zum Weiterlesen.
Mit jeder Seite wurde seine Erzählweise komplexer. Er lass seine eigene Beschreibung über Dinge, die er seinem Tagebuch gelesen hatte, die er versucht hatte, zu ändern, nur um sie dann genau mit den gelesenen Worten niederzuschreiben. Wirklich kompliziert wurde es, als er die Beschreibung über den heutigen Tag lass, wie er in einigen Wochen an seine jetzige Erfahrung zurückdenken würde und wie er dabei empfunden hatte, als er just diesen Abschnitt gelesen hatte. Dem Kaufmann wurde beinahe schwindelig dabei.
Aber schließlich wurde der Stil wieder ein wenig sachlicher und war nicht mehr all zu sehr auf das Tagebuch selbst fixiert. Er lass über neue Begegnungen und über Geschäfte die er tätigen würde. Der Kaufmann in ihm jubilierte bei diesen Beschreibungen, denn ganz offensichtlich würden all seine Unternehmungen von aussergewöhnlich gutem Erfolg gekrönt sein.
In dem vierten Band schließlich lass über den Tot seines Vaters und der Kaufmann war für einige Stunden dermassen schockiert, dass er unmöglich weiterlesen konnte. Sicher, er hatte immer gewußt, dass sein Vater eines Tages nicht mehr sein würde und er war ja auch nicht mehr der Allerjüngste. Doch das genaue Datum zu kennen ... und schon in so wenigen Jahren. Dies war weit entsetzlicher, als er es sich jemals hätte träumen lassen.
Schließlich konnte er sich dazu durchringen, die auch noch die verbleibenden Seiten zu lesen. Offenbar begann er nach dem Tod seines Vaters endlich mit der Reise, von der er nun schon lange träumte. Tatsächlich schrieb er – beziehungsweise würde noch schreiben – dass er nur aus dem Grunde so lange damit gewartet hatte, weil ihm das Tagebuch ihm von diesem Tag berichtet hatte und er seinen Vater auf seine letzten Tage nicht hatte in Gram verfallen lassen wollen.
Fasziniert lass der Kaufmann über die Länder, die er noch besuchen würde, und über die Menschen, denen er noch begegnen würde. Es klang nach genau der Art von Abenteuer, nach der er sich nun schon so lange sehnte. Und wenn das Tagebuch recht behielt, so wie es die wenigen Wochen bis jetzt recht behalten hatte, so würde er all dies tatsächlich schon in ein paar Jahren erleben.
Doch würde er jemals die Gelegenheit haben, all diese Erfahrungen zu einer Geschichte zusammenzufassen? Er war schon in der Mitte des fünften Bandes angelangt und auch der Kaufmann in dem Buch – seinem zukünftigen Selbst – schien ebenfalls diese Sorge zu plagen. Die Einträge wurden immer deprimierter, da das Ende nahe zu sein schein.
Und dann plötzlich, etwa nach zwei Dritteln des Bandes endetet das Tagebuch gänzlich unvermittelt. Der Kaufmann war perplex. Keine Erklärung, was mit ihm wohl geschehen würde. Keine siechende Krankheit oder sonstiges nahendes Übel hatten sich auf den vorherigen Seiten abgezeichnet. Der Kaufmann blätterte zurück, um noch einmal den letzten Satz zu lesen.
"Ich habe alles versucht. Was auch immer geschehen mag, wird geschehen und es gibt nichts was ich daran zu ändern vermag", stand da geschrieben.
Der Kaufmann blätterte noch ein wenig weiter zurück, um sich Klarheit zu verschaffen. Ganz offensichtlich wußte sein zukünftiges ich genausowenig von dem bevorstehenden Unheil wie er selbst in diesem Augenblick. Er kannte nur das Datum und das es danach ganz augenscheinlich nicht mehr weiterging. Vermutlich war sein Schicksal etwas gänzlich unvorhersehbares Plötzliches, entschied der Kaufmann schließlich und wußte nicht so recht was er davon halten sollte. Einerseits war es vielleicht ein Segen, dass er nicht an irgendeiner schlimmen Krankheit sterben würde, wie er zu Anfang noch befürchtet hatte. Aber andererseits ... so wenige Jahre und dann letztlich doch die bleibende Ungewissheit. Der Zauberer hatte ihm wahrlich ein grausames Geschenk gemacht.
*Bis hier hin bin ich gekommen ... hatte ja noch einiges anderes zu erledigen*