Geschichten aus der Kantine ... äh ... Taverne von theTorn
Verfasst: 21.06.2004, 00:14
Hier noch eine Geschichte eines Richters von TheTorn welche aus unserem alten Board stammt:
[/font]Original geschrieben von TheTorn im Januar 2004
Zuweilen findet man sich in einer Kantine oder Taverne - eigentlich ist es egal wo und wann - zu einem netten Treffen zusammen und manchmal lässt Suri sich dazu hinreissen eine Geschichte zu erzählen.
Leider habe ich versäumt beim letzten Mal alles sorgsam mitzuschreiben und ich gebe offen zu, dass ich die Geschichte doch reichlich ausgeschmückt habe, aber im Kern sollte es noch dieselbe sein.
Es war ein mal ein Richter. Der lebte in einem kleinen unbedeutenden Königreich, das von einem gerechten, aber vor allem weisen König regiert wurde.
Eines Tages rief der König den Richter zu einer Audienz, um mit ihm über Recht und Gesetz zu diskutieren. Denn weise wie der König nun einmal war, hatte er längst erkannt, dass Gesetze und Vorordnungen zwar wichtig waren, aber für sich genommen längst noch keine Gerechtigkeit ergaben. Und so sagte er zu dem Richter:
"Die Gesetze, die ich erlasse, sollen lediglich eine Richtlinie für ein friedliches Miteinanderleben sein. Ich kann von keinem meiner Untertanen erwarten, dass sie all diese Papiere lesen und sich buchstabengetreu befolgen. Und so kann sich auch nicht von dir verlangen, dass du buchstabengetreu nach ihnen richtest. Benutze die Gesetze als Richtlinie, um gerechte Urteile zu fällen. Scheue nicht davor zurück Milde oder Härte walten zu lassen, wenn sie dir gerechtfertigt erscheint."
"Aber wäre das nicht Willkür?" fragte der Richter vorsichtig, denn er wusste, dass der König nur selten in der Stimmung war, seine Entscheidungen in Frage stellen zu lassen.
Der König lachte jedoch nur. "Aber ich hätte dich doch nicht zu meinem Richter ernannt, wenn ich nicht Vertrauen in dein Gespür für Gerechtigkeit hätte. Kann ein Urteil willkürlich sein, wenn es zugleich gerecht ist?"
Darauf wusste der Richter nichts zu erwidern. Tatsächlich glaubte er fest an die Gerechtigkeit und bemühte sich fortan gerechte Urteile zu fällen. So erließ er beispielsweise einem Hühnerdieb die Strafe, da ihm zugetragen wurde, dass die Familie des armen Mannes am Hungertuch nagte und eben von dem Besitzer jenes Huhnes auf schändliche - jedoch nicht gesetzeswidrige - Weise um die letzten Ersparnisse gebracht worden war. Andererseits verurteilte er einen üblen Taschendieb zu einem ganzen Jahr Zwangsarbeit ihm Steinbruch, woraufhin dessen Hände so rau und schwielig wurden, dass ihm gar keine andere Wahl blieb, fortan einer ehrlichen Beschäftigung nachzugehen.
Bei jedem seiner Prozesse kamen mehr Zuschauer, so dass der Gerichtssaal bald zu klein wurde. Sie alle stimmten darin überein, dass der Richter gelegentlich zu milde, gelegentlich zu harte, aber in jedem Fall wahrlich gerechte Urteile fällte.
Es kam jedoch der Tag an dem der Richter versagte - ja versagen musste. Verhandelt wurde der Streit zweier Bauern um dasselbe Stück Land von dem beide behaupten es von ihren Vätern geerbt zu haben. Nun muss man wissen, dass es vor vielen Jahren ein Sturm das Haus des Stadtschreibers verwüstet hatte und viele amtliche Dokumente dabei vernichtet worden waren; tragischerweise wohl auch sämtliche Aufzeichnung eben jenen Landstrich betreffend. Zudem lang das Land nun schon seit vielen Jahren brach, so dass sich niemand so recht erinnern mochte, zu welchem der beiden Höfe es denn nun eigentlich gehörte.
Natürlich konnte keiner der beiden Bauern eine gültige Besitzurkunde vorlegen - dann wäre der Prozess freilich einfach gewesen -; aber beide erinnerten sich daran, dass ihre Väter das Land bei einem ehrlichen Wettstreit gewonnen hatten. Mehrere Zeugen wurden geladen, die einst Zeug bei besagtem Wettstreit gewesen waren. Mal wurde die Geschichte des einen Bauern bestätigt, mal die des anderen. Bei einigen Zeugen war sich der Richter ihrer Glaubwürdigkeit alles andere als sicher; doch als er schließlich alle Befragungen rekapitulierte, musste er sich einsehen, dass es ihm unmöglich war, die Wahrheit zu erkennen. Unstrittig war einzig und allein die Tatsache, dass dieser Wettstreit stattgefunden und einer der beiden Männer das Land gewonnen hatte.
Und dennoch wurde von ihm ein gerechtes Urteil erwartet. Er war geneigt, dem ärmeren der beiden Bauern Recht zu geben, da der Besitz des anderen Bauern schon beträchtlich war und auf dieses eine Feld sicherlich hätte verzichten können. Doch wäre ein solches Urteil gerecht gewesen? Immerhin eilte dem ärmeren Bauern auch der Ruf nach, nicht sonderlich geschickt zu sein und nur die niedrigsten Erträge zu erwirtschaften. Der reichere Bauer, der zudem auch noch weit mehr Knechte hatte, würde das Land zum Wohle aller sicherlich weit besser nutzen können.
Wie, so fragte sich der Richter, sollte man ein gerechtes Urteil fällen, wenn beide Parteien gleichermaßen glaubwürdig waren und ein gleichermaßen berechtigtes Anliegen hatten?
Da er keinen Rat wusste, wandte er sich schließlich an den König, der das Problem auf sehr königliche Weise löste: Er erklärte, dass das strittige Land zwischen den beiden Bauern zu gleichen Teilen aufgeteilt werden solle. Die Bauern murrten zunächst, doch der König erklärte gleich darauf, dass er das Land auch annektieren könne, sollte ihnen dies gerechter erscheinen. Daraufhin waren die beiden Bauern sehr eifrig bemüht dem König zu erklären, dass die erste Lösung schon die richtige sie und sie ihm für die Schlichtung dieser unbedeutenden Streitigkeit zu großem Dank verpflichtet waren.
Doch der Richter konnte diesen Streit nicht vergessen und musste auch viele Monate später noch daran zurückdenken. In diesem Fall war eine Lösung vielleicht einfach gewesen. Doch was, wenn sich das Problem nicht einfach aufteilen ließe? Was wäre, wenn es sich um das Leben eines Menschen gehandelt hätte.
Und mehr noch, der Richter begann sich zu fragen, ob all seine bisherigen Urteile wahrlich gerecht gewesen waren. Was, so fragte er sich, wenn einer der vielen Zeugen gelogen hatte oder - wissentlich oder aus Vergesslichkeit - einen wichtigen Aspekt der Wahrheit außer Acht gelassen hatte? War jener Hühnerdieb gar ein notorischer Übeltäter, der von nun an noch weit schlimmere Verbrechen begehen würde? Oder hatte sich jener Taschendieb vielleicht doch nur bei seinem ersten Raubzug erwischen lassen und war doch nicht jener unbelehrbare Unhold, wie er von den Zeugen beschrieben worden war?
War es überhaupt möglich, so fragte er sich weiter, ein gerechtes Urteil zu fällen, wenn man nicht die volle, über jeden Zweifel erhabene Wahrheit kannte?
Als er diese Frage daraufhin dem König stellte, antwortete dieser: "Da magst du wohl Recht haben, Richter. Doch trotz deiner Robe bleibst du doch ein Mensch und niemand kann von einem Menschen erwarten, die volle Wahrheit zu erkennen. Vertraue deinem Gespür für Gerechtigkeit. Glaube mir, ein Gespür für Gerechtigkeit geht immer daher mit einem Gespür für Wahrheit."
"Aber einmal habe ich die Wahrheit nicht erkennen können", widersprach der Richter.
Daraufhin lachte der König. "Man kann von einem Menschen auch nicht erwarten, unfehlbar zu sein."
Obwohl der Richter natürlich wusste, dass der König Recht hatte - immerhin war er ja der König -, so konnte er sich dennoch nicht mit dieser Antwort zufrieden geben. Wie, so fragte er sich, konnte er fortan jemals wieder ein hartes, aber gerechtes Urteil fällen, ohne von Selbstzweifeln zu gequält zu werden? Hatten die Menschen, über die er ein Urteil zu fällen hatte, nicht ein Recht darauf, dass er unfehlbar war?
So entschloss sich der Richter den Zauberer des Landes aufzusuchen. Der Zauberer war ein sehr alter Mann, über dessen Herkunft nur wenig bekannt war. Auch wenn ihn viele inzwischen für ein wenig senil hielten, so wusste der Richte doch, dass der alte Mann bereits im kleinen Zeh mehr Magie hatte als all die vielen Möchtegern Zauberer, Alchimisten, Heiler und Druiden aller bekannten Königreiche zusammengenommen. Der Richte wusste nicht, ob ihm der Zauberer bei seinem Problem würde helfen können. Doch wenn er es nicht konnten, so konnte es wahrlich niemand.
"Du möchtest also die wahrhaftige Wahrheit erkennen?" fragte der alte Zauberer mit einem leicht süffisanten Lächeln - das war nichts außergewöhnliches, denn im Grunde lächelte der Zauberer immer so. "Dann lass dir gesagt sein, dass die wahrhaftige Wahrheit nicht für menschliche Augen bestimmt ist."
"Was kann denn schon gefährliches an der Wahrheit sein?" fragte der Richter erstaunt. "Wäre es nicht viel schlimmer, ein ungerechtes Urteil zu fällen, wenn man die Wahrheit nicht erkennt?"
Der Zauberer kicherte nur. "Du bist also wirklich davon überzeugt, dass du mit der wahrhaftigen Wahrheit ein gerechtes Urteil fällen kannst?"
"Ja", erwiderte der Richter fest, wenngleich er einen kurzen Moment lang zögern müsste. "Es ist die oberste Pflicht eines Richters, die Wahrheit zu erkennen und daraufhin zu richten."
"Nun gut, wenn dies wirklich dein Wunsch ist, so kann ich dich mit einem Bann belegen, der dich die Wahrheit erkennen lassen wird", sagte der Zauberer schließlich, immer noch süffisant lächelnd. "Der Zauber wird einige Vorbereitung erfordern und einmal ausgesprochen wird es nicht möglich sein, denn Bann wieder zu heben. Komm morgen wieder, dann sehen wir weiter."
Und so wartete der Richter bis zum nächsten Tag. Zur selben Stunde des Tages erreichte ihn ein Bote des alten Zauberers und geleitete ihn zu einem baufälligen Turm des Schlosses in dem der Magier vor langer Zeit sein Labor eingerichtet hatte; nur wenigen war seitdem vergönnt gewesen es zu Gesicht zu bekommen.
"Du willst also immer noch die wahrhaftige Wahrheit erkennen?" stellte der Zauber leise kichernd fest.
"Ja, das will ich", erwiderte der Richter mit fester Stimme.
"Wie ich gestern bereits sagte, kann der Bannzauber nicht wieder gehoben werden, wenn er einmal ausgesprochen wurde", warnte der Zauberer erneut. "Du wirst bis an dein Lebensende die Wahrheit erkennen, vielleicht sogar darüber hinaus."
Einen kurzen Moment lang kamen dem Richter doch Zweifel, ob er das richtige Tat. Die Worte des Zauberers klangen unendgültig und er war sich nicht sicher, ob er wirklich ausreichend darüber nachgedacht hatte, ob eine Entscheidung dieser Tragweite zu treffen. Doch beim besten willen konnte er nicht erkennen, was daran verkehrt sein sollte, die Wahrheit zu erkennen, ganz im Gegenteil sogar.
"Ich bin bereit", erwiderte der Richter fest.
Der alte Zauberer reichte ihm eine kleine Phiole mit einer blasblauen Flüssigkeit. "Dann trinke diese Flüssigkeit und dir werden die Augen geöffnet."
"Was ist das?" fragte der Richter misstrauisch, denn er hatte schon viele schaurige Geschichten über Zaubertränke gehört.
"Die Zusammensetzung dieser Substanz ist weit weniger wichtig wie das, was ist repräsentiert: Wahrheit", entgegnete der Zauber schelmisch. "Aber natürlich wirst du die erst erkennen, nachdem du sie getrunken hast."
Und so nahm der Richter die Phiole und lehrte sie mit einem Zug. Die bläuliche Flüssigkeit hinterlies ein rauchiges Gefühl in seiner Kehle, hatte ansonsten jedoch keinerlei Auswirkungen.
"Geh jetzt!" befahl der Zauberer barsch.
Der Richter gehorchte, denn selbst der König widersprach seinem mächtigen Hofzauberer nur äußerst selten.